

Der eine kommt in Tweed gekleidet, die andere fährt das gleiche Rad seit 1957, und der Dritte hat sich den Namen des Treffens auf den Arm tätowieren lassen: Einmal im Jahr reisen Fans alter Räder zur Velo Classico nach Ludwigslust
Wirklich gefahren heißt auch wirklich gefahren. Da geht es einmal rum um Ludwigslust und durch den Mecklenburger Wald, auf gemütlichen Landstraßen, über ärgerliche Huckelpisten oder durch mühselige Sandwege. Die längste der Radrennstrecken, die Heldenrunde, ist 150 Kilometer lang. Wer daran teilnimmt, muss sein Fahrrad einer Prüfung unterziehen lassen. Denn auf der Heldenrunde sind nur klassische Rennräder bis zum Baujahr 1989 erlaubt, ausgestattet
MEHR TRADITION AN EINEM WOCHENENDE GEHT KAUM
Um Schnelligkeit geht es bei dem Rennen nicht, keiner misst die Zeit, keiner fragt nach einem Platz. Das Einzige, was zählt, ist die Freude dabei. Ja, die Velo Classico macht richtig Spaß. Denn hier geht es um die Strecke und ihre vielen kleineren und größeren Zwischenstopps. Da warten echte Landfrauen in Traditionskleidern, die Schmalzstullen schmieren. Oder Förster, die Wildbret servieren, und Heimatvereine, die mit selbstgemachten Trüffeln und Blasmusik aufwarten. Mehr Land- und Heimatfeeling, mehr Tradition und Geschichte gehen an einem Wochenende nicht.
Jeden September fallen sie also ein, in das stolze Städtchen Ludwigslust in Mecklenburg-Vorpommern. Menschen, die die Markennamen und Jahrgänge ihrer alten Räder genauso schnell parat haben wie andere die aktuellen Fußballnationalspieler:


Tweed-Schneider und nimmt mit der ganzenFamilie teil
"In unserer heutigen Zeit geht es viel um schnellen Konsum. Was wir hier machen, ist das genaue Gegenteil davon"
BLANK GEPUTZTE RÄDER UND SWING-MUSIK
Und dazu gibt es einen, man könnte ihn als Vater dieser Geschichten bezeichnen, weil er sie alle kennt. Detlef Koepke ist sein Name, herzliche Ausstrahlung, 58 Jahre. Er schüttelt Hände, er umarmt, er begrüßt, er bewundert. Koepke hat sich die Velo Classico ausgedacht, sie nach Ludwigslust gebracht. Und weil er begeistern kann, machen so viele mit. Polizei, Feuerwehr, Bürgermeister und Ortsvorsteher, die Streckenhelfer, die vielen anderen Ehrenamtlichen. Jahr für Jahr lockt
Die Leute lachen. Die blank geputzten Fahrräder blitzen. Zur Swing-Musik stehen Menschen beieinander. Eine von ihnen ist Gudrun Berkholz. Wie sie unter ihrem Stroh- Sonnenhut hervorschaut, wirkt sie wie eine Lehrerin aus einem Astrid-Lindgren-Roman, mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Schule in Bullerbü. Auf dem Rücken trägt sie einen Lederrucksack, auf dem Gepäckträger eine Ledertasche, dazu hat sie einen karierten Rock und ein Jackett an, Kniestrümpfe und Lederschuhe. Berkholz ist 76 Jahre alt. Dieses eine Fahrrad, auf dem sie Zeit ihres Lebens fährt, stammt aus dem Jahr 1957. Ein Diamant-Rad mit einem Vorderlicht, in dem noch ein Tacho eingelassen ist, hergestellt vom Volkseigenen Betrieb Geräte und Regler Werke Teltow, aktueller Kilometerstand 3492,9. Obwohl sich der ja immer wieder nullt, wenn man bei der 9999,9 angekommen ist, wie sie sagt.


HINEINRADELN IN DEN SONNENSONNTAG
Detlef Koepke steht vorne, an der Startlinie, dahinter warten die Radler, dass es endlich losgeht. Doch Detlef muss auf seine bescheidene Art noch ausdrücken, wie sehr er sich freut, dass so viele da sind, dass so viele mitmachen.
Dann gibt er den Startschuss, und 100 alte Räder machen sich auf zur gemütlichen Genießerrunde, 45 Kilometer entspanntes Radfahren: Vom Stadtzentrum am Schloss vorbei geht es erst durch den Schlosspark, dann raus aus der Stadt und schnell in den Wald. Und während man in den Sonnensonntag hineinradelt, hört man links und rechts in die Geschichten der Menschen hinein.
Da ist der Schneider Oliver Sinz zusammen mit seiner Familie. Bei ihm im Geschäft in Berlin-Mitte gibt es Maßgeschneidertes aus Tweed. Er, seine Frau und seine Kinder sind heute komplett in Tweed ausgerüstet, passend zu ihren alten Retro-Rädern, „ein tolles Lebensgefühl“, sagt der Edelschneider.

Er fährt jedes Jahr mit

Dann ist da noch Manfred Gallonski aus Celle, 65 Jahre alt und heute mit seinem alten roten Pinarello-Rennrad dabei. Das sei nur eines von vielen Retro-Rädern, die er besitzt. Gestern fuhr er schon die 150-Kilometer-Tour. „Ehrensache“, sagt er. Sein Rad stammt aus den 1970er-Jahren. Ausgestattet ist es mit einer zweimal siebenfachen Rahmenschaltung. Gar nicht so schlecht, wenn man bedenkt, dass andere hier nur einen Gang haben. Gallonski kommt jedes Jahr und ist so begeistert, dass er sich den Slogan „Velo Classico“ auf seinen Unterarm hat tätowieren lassen.
Dann ist da noch Andreas Thiel, 54, aus Schleswig-Holstein. Sein handgefertigtes Gazelle-Rad sieht aus wie neu, wie eine Mischung aus Museumsstück und Schaufensterdekoration. Das Rad hat ganze zwei Gänge. „Einmal die Pedale kurz nach hinten, dann schaltet es um, das ist ein Freilaufsystem.
Die Retro-Vintage-Fahrrad-Schiene hat ihre begeisterten Anhänger gefunden. Basteln, Ersatzteile jagen und dabei gut aussehen. Die Velo Classico ist nur eine von mehreren Veranstaltungen dieser Art in Deutschland. Nach 45 Kilometern durch die Natur, an Windmühlen vorbei, beköstigt von Landdamen und begrüßt von Vertretern der örtlichen Heimatvereine, sind die Vintage-Radfans endlich am Ziel angelangt. Hier noch ein paar Swingschritte, und dann ist es gut für 2018.
2019 geht es weiter, am 14. und 15 September, wieder in Ludwigslust, wieder auf alten Rädern. Und wer kein altes hat, kommt einfach mit seinem neuen. Nur auf der Heldenrunde, da muss es 100 Prozent Vintage sein.
TEXT Karl Grünberg | FOTOS Thilo Rückeis, Tagesspiegel, Radfahr-Magazin 2019